von Friederike Teller | Bilder von © Paula Peikert
Ich bin in Ostdeutschland geboren. Acht Jahre nach der Wiedervereinigung und auf meinem Ausweis steht Staatsbürgerschaft deutsch. Die Deutsche Demokratische Republik ist etwas, wovon ich in meiner Kindheit durch die Geschichten meiner Eltern und Großeltern erfahren habe.
Sie erzählten mir davon, wie mein Opa plötzlich seine sterbenskranke Mutter nicht mehr besuchen konnte, weil plötzlich eine Mauer sie trennte. Auch über die Stasi (Staatssicherheit) und die Überwachung durch Nachbar*innen, Kolleg*innen und sogar Freund*innen, wurde manchmal geredet. Natürlich wurde auch von den verschrumpelten Pfirsichen in den Supermärkten berichtet, für die man trotzdem bereit war, stundenlang anzustehen und sie als Festmahl zu feiern. Aber diese Geschichten klangen für mich wie aus einer längst vergangenen Zeit. Die DDR kam mir furchtbar weit weg vor.
Komisch fand ich es deshalb auch, wenn meine Mutter mich neugierig fragte, ob ich die Unterschiede bei meinen Freund*innen bemerkte, ob sie aus dem Osten oder Westen kämen. Die Antwort war mein verständnisloses Lachen. Nein, sowas erkenne ich doch nicht, nicht in meiner Generation, entgegnete ich damals. Meine Realität war die blühenden Kunst- und Kulturlandschaft Leipzigs. Leipzig, dass auch liebevoll Hypezig genannt wurde und nicht nur wegen des günstigen Wohnraums eine beliebte Studierendenstadt geworden ist.
Wahrscheinlich war es erst mit dem Aufstieg der AfD und der plötzlichen Popularität von Pegida, dass mir bewusst wurde, dass es Ostdeutschland doch noch gibt. In den Köpfen und in den Medien. Denn auf einmal wurde über den Rechtsruck in “diesem Osten” berichtet. Die neuen Rechten waren eindeutig ein ostdeutsches Problem, waren sich die Medien einig. Obwohl im Osten doch deutlich weniger Menschen mit Migrationshintergrund leben, ziemlich merkwürdig also diese Ostdeutschen, so die Zusammenfassung des medialen Konsenses. Historisch unterschiedliche Entwicklungen und strukturelle Ungleichheiten wurden damals nur selten thematisiert.
Viel mehr als die pauschalisierende Berichterstattung, beängstigten mich aber die zunehmenden Sympathien gegenüber der AfD auch seitens einiger meiner Mitschüler*innen und Lehrer*innen. Denn schon von Beginn an waren es nicht nur die eurokritischen Positionen der AfD, welche für diesen Zuspruch sorgten, sondern auch die ablehnende Haltung gegenüber dem kulturellen und sozialen Anderen. Diese Meinungen der AfD, welche sich immer mehr von wirtschaftlich-konservativ, zu offen rechtsradikal wandelten, wurden auch von vielen Pegida Sympathisant*innen vertreten. Die im Oktober 2014 in Dresden gegründete Bewegung der „patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“, bekam besonders im Osten großen Zuspruch. Der Leipziger Ableger Legida, zeigte sich sogar offen gewaltbereit.
Meine Freund*innen und ich wurden dadurch politisiert, wir begannen für Vielfalt und Offenheit zu demonstrieren und uns ehrenamtlich in der Arbeit mit Geflüchteten zu engagieren. Natürlich waren auch einige in der Antifa aktiv, schließlich lebte ich immer noch in Leipzig, dass für seine große linke Szene bekannt ist. Die Gegendemonstrationen zu Legida waren so immer bis zu 10-mal so groß wie Legida selbst. Irgendwann wurde nur noch unregelmäßig demonstriert und es waren nur noch ein paar Nazis, die von viel Polizei geschützt, aus den umliegenden Dörfern kamen, um betrunken ein paar Parolen, die niemand verstand, zu rufen. Doch in den ländlichen Regionen sah und sieht es ganz anders aus, dort kommt es vermehrt zu gewalttätigen Aktionen der Rechten. Ich schluckte, wenn ich in die Heimat meiner Familie in der Lausitz fuhr und die Namen der Ortsschilder las, die nun auch den Medien durch Angriffe auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte bekannt waren.
Als ich Deutschland dann verließ, erzählte ich während meines Auslandsjahres immer wieder von der Mauer, von der DDR und der friedlichen Revolution, einfach weil ich es spannend fand: Da haben Menschen mit Kerzen, zivilen Engagement, Gesprächen und ohne Gewalt, auch durch eine außenpolitisch günstige Gesamtsituation, ein Unrechtsregime gestürzt. Eine Mauer, die fast 30 Jahre Familien getrennt, 1.613 Menschen das Leben gekostet und freies Reisen unmöglich gemacht hat, war gefallen. Und das waren nicht irgendwelche Menschen, das waren die Eltern und Großeltern von meinen Freund*innen und mir.
Meine Euphorie machte jedoch eine Bruchlandung, als ich wiederkam und es in Chemnitz zu massiven rechtsextremen Angriffen und Ausschreitungen kam. Schon im Jahr 2017 hatte das internationale Konfliktforschungsinstitut für Deutschland den Zustand einer gewaltsamen Krise (Stufe 3 von 5) postuliert. Es war zu über 1389 Angriffen auf Asylunterkünfte in ganz Deutschland gekommen, sowie zu mindestens 330 fremdenfeindlichen Angriffen auf Asylsuchende.
Ich war geschockt und verstand nur langsam die Ausmaße des Problems. Denn auch wenn es beeindruckend war, wie viele Menschen sich in den folgenden Demos mit den von Rassismus betroffenen Menschen solidarisierten, gingen diese Feiern für die Vielfalt an großen Teilen der Bevölkerung vorbei. Es sind vor allem die vielen ostdeutsche Menschen, die Präventions- und Aufklärungsarbeit auch im ländlichen Raum leisten und sich gegen rechte Ideologien engagieren und wehren, die ich für ihre Arbeit seitdem sehr bewundere.
Pauschalisierungen, wie sie auch in Folge der Geschehnisse in Chemnitz oft in den Medien, über den Rechtsradikalismus und Ostdeutschland getätigt werden, sind deshalb mehr als gefährlich und helfen absolut nicht weiter. Natürlich haben die Medien recht damit, dass das Problem des zunehmenden offenen Rechtsradikalismus mehr als real ist. Es bedroht Menschen tagtäglich, das Klima hat sich verändert und auch von Rassismus betroffenen Menschen bereits dazu bewegt wegzuziehen. Nur ist das es eben kein rein ostdeutsches Problem, denn wir leben in einem geeinten Deutschland und sind füreinander verantwortlich.
Seit ich in Westdeutschland studiere, fallen aber auch mir immer mehr Unterschiede zwischen Ost- und West auf. Neben spannenden Gesprächen über unterschiedliche Sozialisationen, bin ich dabei auch oft mit krassen Stereotypen und Pauschalisierungen über „den rechten Osten“ konfrontiert. Dies liegt oft an einem großen Unwissen über die gemeinsame und geteilte Vergangenheit Deutschlands. Schließlich sind mir in meinem Studium bisher weniger als fünf Menschen aus Ostdeutschland begegnet und viele meiner Freund*innen waren auch selbst noch nie in Ostdeutschland (Berlin zählt nur halb).
Das ist problematisch, denn natürlich gibt es Unterschiede. 40 Jahre andere Ideologisierung und Entwicklung hinterlassen Spuren. Die Wendezeit hat es kaum geschafft eine Zusammenführung der beiden Realitätsvisionen zu erreichen, sondern soziale Ungleichheiten eher noch verstärkt. Was für die Einen die mit erheblichen Kosten verbundene Übernahme eines zeitweisen abgetrennten Landesteils war, war für die anderen die Hoffnung auf den erkämpfte Neubeginn und auf Verhandlungen zur Verschmelzung zweier Systeme, die voneinander lernen können. Stattdessen verloren viele Menschen im Osten in Folge der Abwicklung von Unternehmen durch die Treuhand ihre Arbeit, westdeutsche Investor*innen übernahmen Fabriken, kauften Immobilien und dominieren bis heute die Universitäten. Eine aktuelle Studie des Zentrums für Hochschulentwicklung zeigt, noch immer kommt keine einzige der Führungskräfte der öffentlichen Universitäten Deutschlands aus Ostdeutschland. Gleichzeitig zog es nach dem Fall der Mauer fast ein Viertel der ostdeutschen Bevölkerung in den Westen, um der steigenden Arbeitslosigkeit zu entfliehen.
Einmal erklärte mir ein alter Mann auf einer Parkbank, dass in der DDR auch nicht alles schlecht gewesen sei. Ich schaute ihn damals an, als hätte er etwas Verbotenes gesagt. Geschichte ist Geschichte. Und meine Eltern haben sicher nicht umsonst demonstriert und ihre Zukunft riskiert, um sich gegen die Unterdrückung eins unrechten Systems zu wehren. Heute weiß ich, dass er Recht gehabt hat. Sicher war in einem Land, welches 40 Jahre das Leben von Millionen Menschen bestimmt hat nicht alles schlecht. Eine geringe Arbeitslosenquote, die Emanzipation der Frau auf dem Arbeitsmarkt und ein, wenn auch ungewollt, sehr reduziertes und regionales Konsumverhalten und ein daraus entstehendes Improvisationstalent. Das sind (ostdeutsche) Qualitäten, die für feministische und Gerechtigkeitsbewegungen ebenso wichtig sind, wie sie in Zeiten der Klimakrise wieder bedeutsam werden.
Ich möchte weder glorifizieren noch jemanden verteidigen und auch die Wahlergebnisse der AfD im Osten nicht rechtfertigen. Denn um ehrlich zu sein, habe auch ich große Angst vor der Landtagswahl in Sachsen am kommenden Wochenende und noch mehr davor, was danach geschieht. Ich habe Angst vor der Berichterstattung und davor, dass sie Recht behalten haben. Dass Ostdeutschland tatsächlich ein guter Nährboden für völkische und nationalistische Ideologien ist, haben leider die letzten Europawahlen bereits bewiesen. Auf der Karte der Wahlergebnisse wurde eine blaue Grenze (wieder) sichtbar. Die Zentren von Leipzig, Jena und Erfurt schwimmen darin, als hilflose Inseln.
Das ist aber nur eine Dimension, denn die Grenze wird auch sichtbar, wenn man sich die kürzlich veröffentlichte Studie des Berlin Instituts zur Lebensqualität in Deutschland anschaut. Dabei liegen die 58 ländlichen Kreise, welche als abgehängt klassifiziert wurden, fast ausschließlich in Ostdeutschland. Die Verfasser*innen der Studie bemerken, dass in diesen Regionen die Bevölkerungen schon seit Generationen von Arbeitslosengeld abhängig sind und der Abwärtstrend sich weiter fortzusetzen droht. Es sind Regionen wie der Südharz, die Sächsische Schweiz oder die Mecklenburgische Seenplatte.
Dahin möchte ich alle Menschen einladen, um sich ein mehrdimensionaleres Bild zu machen. Dieses Jahr feiert auch die friedliche Revolution am 9. Oktober in Leipzig ihr 30- jähriges Jubiläum, ein guter Grund also einmal in den Osten zu Reisen und gerne auch länger zu bleiben, um die umliegenden Regionen zu erkunden. Denn es ist an der Zeit, Verwandte und Unbekannte nach ihren Gedanken zur Mauer und Wende zu fragen und nach ostdeutschen Stimmen (die nicht Angela Merkel sind) in der Öffentlichkeit, sowie in Führungsetagen und im eigenen Umfeld zu suchen.
Das wird nicht reichen. Verständnis und Kommunikation sind erst der Anfang. Es braucht infrastrukturelle Reformen, besonders für den ländlichen Raum und eine Stärkung der Zivilgesellschaft, die dann auch endlich konsequent eine Lohnangleichung zwischen Ost und West fordern kann. So langsam verstehe ich, dass die Wiedervereinigung ein Prozess ist. Sie ist gedanklich, wie strukturell noch lange nicht abgeschlossen. Wir brauchen also neue Strategien und die Besinnung auf ost- und westdeutsche Qualitäten und Geschichten. Das geht auch unsere Generation etwas an, denn wir sind mitverantwortlich. Wir sollten das als gemeinsame Chance begreifen.