Text von Jakob Schleh | Bilder von Leslie Klawitter
Che Guevara, Fidel Castro, Salvador Allende, Emiliano Zapata – Personenkulte um linke Revolutionäre haben in Lateinamerika eine gewisse Tradition. Dabei entstehen Mythen oft durch Guerilla-Kriege und gewaltsame Putsche. Evo Morales, der erste indigene Präsident Boliviens, beweist das Gegenteil: Er wurde demokratisch ins Amt gewählt und gerade deshalb von seinen Anhängern wie ein Held verehrt. Im Laufe seiner Präsidentschaft konnte er der bolivianischen Wirtschaft zum Aufschwung verhelfen. Die Errungenschaften seiner Politik der sozialen Gerechtigkeit sind ein Meilenstein für linke Bewegungen in Lateinamerika und ein wichtiges Zeichen im Kampf gegen den Neoliberalismus – doch nach 13 Jahren trat Morales im November überstürzt zurück.
Jetzt befindet sich der Ex-Präsident in Mexiko, auf seinen Rücktritt folgte die Flucht ins Exil: Hauptgrund dafür ist, dass nach den Präsidentschaftswahlen im Oktober internationale Wahlbeobachter Unstimmigkeiten bei der Auszählung bemerkten. Die Opposition warf Morales Wahlbetrug vor. Proteste über dessen vierte Wiederwahl wurden daraufhin aus allen Bevölkerungsschichten laut. Die Verfassungsänderung, die eine vierte Amtszeit überhaupt erst legal gemacht hatte, war schon vor der Wahl stark umstritten gewesen. Nach der Wahl kam es im ganzen Land zu Straßenkämpfen zwischen Morales-Anhängern und oppositionellen Gruppen. Der Präsident sah sich genötigt zurückzutreten und verließ Bolivien. Vom entstandenen politischen Machtvakuum könnten die alten Eliten profitieren, doch unter Morales hat sich in Bolivien auch vieles zum Guten entwickelt.
Der Personenkult um Morales gründet vor allem auf dessen Herkunft: Morales wuchs in einer armen Bauernfamilie auf, begann sein politisches Engagement als Vertreter der Gewerkschaft von Koka-Bauern und wurde später mit überzeugender Mehrheit zum Präsidenten gewählt. Seine indigene Herkunft hat große Symbolkraft: Die meisten Bolivianer sind Indigene und sie setzten von Beginn an großes Vertrauen in Evo Morales.
Die Erfolge, die er seit Beginn seiner ersten Amtszeit vorzuweisen hat, sind beachtlich. Sozialistisch, antikolonial und antiimperialistisch – so die Präambel seiner Politik. Bolivien war bis zum Ende der Kolonialzeit ein fremdbestimmtes Land, dessen Rohstoffe von internationalen Konzernen bis heute ausgebeutet werden. Morales setzte durch, dass Erdgasfirmen deutlich mehr Exportgewinne an den Staat abtreten. Das BIP ist dabei stark angestiegen – ungewöhnlich für ein Entwicklungsland wie Bolivien. Diesen Aufschwung erreichte Morales‘ Regierung vor allem durch Investitionen in den Sozialstaat, was wiederum den Wohlstand im Land gleichmäßiger verteilte. In den letzten Jahren sind viele lokale Unternehmen gefördert worden, Bauernkollektive und Gewerkschaften profitierten mit am meisten vom Wachstum. Die extreme Armut wurde erfolgreich bekämpft und das Entstehen einer Mittelschicht begünstigt. Weiterhin investierte Morales‘ Regierung in die Infrastruktur des Landes – in La Paz gibt es jetzt Transportgondeln, auf dem Land thermoelektrische Kraftwerke. Die Planung hat begonnen für den Tren Bioceánico: eine Eisenbahnlinie, die es Bolivien ermöglichen soll, Exporte direkt über Häfen in Peru oder Brasilien abzuwickeln und so mehr Gewinne einzubehalten. Innovationen, die in erster Linie dem bolivianischen Volk zugutekommen – das ist revolutionär.
Neben wirtschaftlichen Maßnahmen waren die Rechte der indigenen Bevölkerung ein besonders wichtiger Punkt auf Morales‘ Agenda. Wie überall in Lateinamerika sind auch in Bolivien die Großindustriellen und traditionellen Machthaber fast ausnahmslos weiß und christlich – als erster indigener Präsident des Landes war Morales ein Idol im Kampf gegen Diskriminierung und Ungleichheit.
Kritik verdienen andere Aspekte von Morales‘ Präsidentschaft: Die Wende zu einem ökologisch verträglichen Rohstoffabbau hat Bolivien nicht geschafft. Der Lithiumabbau bleibt ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und auch Brandrodungen im Regenwald stehen noch immer auf der Tagesordnung. Außerdem gab es Vorwürfe im Zuge von Straßenbauprojekten, bei denen die ansässige indigene Bevölkerung Widerstand gegen großflächige Abholzung leistete und daraufhin Polizeigewalt und Repression erfuhr. Dennoch war Morales‘ Präsidentschaft bis zur letzten Wahl demokratisch legitimiert und erfreute sich großen Rückhalts aus der Bevölkerung – erst mit seinen Bestrebungen zu einer vierten Amtszeit verlor Morales viele Anhänger. In einem Referendum stimmten 51,3% der Menschen gegen eine erneute Wiederwahl und die dafür notwendige Gesetzesänderung. Die Angst bestand, dass Morales sich den entstandenen Personenkult zunutze machen und sich wie viele lateinamerikanische Politiker zuvor zum Autokraten entwickeln würde. Dass Morales sich über den Ausgang des Referendums hinwegsetzte, das Gesetz durch eine Entscheidung des obersten Gerichts zu seinen Gunsten auslegte und 2019 erneut zur Präsidentschaftswahl antrat, zeigt, dass diese Sorge nicht unbegründet war.
Trotzdem kann man positiv auf Morales‘ Präsidentschaft zurückzublicken. Seine Politik war ein großer Fortschritt im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit, dem sich schon viele linke Protestbewegungen und Regierungen vor Morales verschrieben hatten. Probleme, die in den letzten 13 Jahren in Bolivien bekämpft wurden, sind in ähnlicher Ausprägung in fast allen lateinamerikanischen Gesellschaften präsent: Soziale Ungleichheit, Rassismus und eine starke wirtschaftliche Abhängigkeit von ausländischen Unternehmen und Rohstoffexporten.
In Bolivien wurde Evo Morales von einem großen Teil der Bevölkerung unterstützt, seine Partei „Movimiento al Socialismo“ stieß aber von Beginn an auch auf Widerstand. „Wir mussten laufen lernen“, meint Morales deshalb, wenn er von den frühen Jahren seiner Regierungszeit spricht. Es wurden natürlich auch Fehler gemacht. So wuchs im Laufe der Zeit der Druck der Opposition und Morales‘ Regierungsstil wurde zunehmend autoritär. Sein Vizepräsident stellt fest: „Wir haben die Mittelschicht geschaffen, die sich jetzt gegen uns gewendet hat.“
Die Massenproteste gegen Morales‘ autokratische Bestrebungen sind ein starkes Zeichen einer funktionierenden Demokratie. Nur der Blick in die Zukunft wirft Fragen auf: Dem Kabinett der Übergangspräsidentin von Bolivien, Jeanine Añez, gehört kein einziger Indigena an. Sie gilt als rechtskonservativ und kritisiert Evo Morales heftig für dessen außen- und innenpolitische Entscheidungen. Es bleibt zu hoffen, dass nach demokratischen Wahlen neue politische Akteure positive Veränderungen bewirken können und Großprojekte mit neuen Mitteln vorantreiben – so zum Beispiel die Landreform, die Morales zwar angestoßen, aber nie erfolgreich zu Ende gebracht hat. Morales‘ politisches Erbe wird die bolivianische Zukunft prägen. Offen bleibt die Frage, ob die demokratischen Strukturen im Land stabil genug sind, um dem bolivianischen Volk eine starke Stimme im Kampf gegen die alten Eliten zu geben.