[ein halten mehr]

text & fotografien: laura

november, 2023

  1. wir halten an routinen fest: am morgendlichen kaffeemaschinen einschalten, am „gute nacht“ durch den flur am abend, am „schlaft gut“ in familienchats. an bib-tagen und mensa-pausen. am metronom fahren mit einkalkulierter verspätung. am durak spielen an donnerstagen, jede woche, in verrauchten sankt pauli kneipen, in denen m. das mischen lernt und e. das analoge telefonieren. oder bei h., der uns mittlerweile im kickern abzieht. wir halten uns an die selbstgemachte regel: zwanzig seiten pro woche (im lesekreis) und wir lesen brav die vierzig seiten text (pro seminar).  
  2. wir halten uns gegenseitig und am küchentisch fest, während s. von freund:innen in kriegsgebieten erzählt; wie viele minuten man wo hat, um in den bunker zu kommen. wir halten unsere köpfe fest, wenn sie vom schütteln wehtun, wenn diskussionen verlaufen und menschen sich. während alles polarisiert, versuchen wir uns an fakten festzuhalten, die wir teilen und vertiefen, um das fundament zu festigen. wir wollen haltung zeigen statt gefühlter richtigkeit.
    wir ertragen die bilder, trotzdem, wir müssen ja auch nur die bilder ertragen. damit unsere herzschichten weich bleiben, halten wir unsere empathie ganz nah bei uns, was bleibt uns denn sonst?
    wir halten inne ob der vielzahl von krisen wissen wir gar nicht mehr, wo wir alles hinsehen müssen. wir tragen den ballast mit uns herum, wir legen ihn nur manchmal ab, wenn er zu erdrücken droht.
    wir versuchen ja ambivalenzen auszuhalten.
  3. wir tanzen depri in der disko. wir gebieten niemandem einhalt, trinkt so viel alkoholfreien rotwein wir ihr wollt, hier: volle dröhnung, während die ballade im molotow schallt der bass unter der sternbrücke. die bierhand hält sich an der rakete fest und es ist fast schon zu kalt zum cornern. wir halten die ramenschüsseln umschlossen, damit unsere hände nach dem von-draußen-kommen warm werden. wir haben immer notfallramen im unteren küchenschrank für nächtliche naschanfälle. wir halten uns bereit für die weihnachtlichen tage, basteln kalender für großeltern, bekommen plätzchendosen zugeschickt. m. macht den ersten punsch warm. am tag des kürbissuppenwettbewerbs wird m. zum sieger erklärt und e. hält eine ki-laudatio. wir machen es uns warm, um weich bleiben zu können.
  4. wir halten uns, an den händen. wir helfen, schlussstriche zu ziehen, versuchen es wenigstens: wir halten uns dann minutenlang vorträge über das verhalten und wie wir lieb zu uns sein müssen, vor allem wenn es andere nicht sind. wir sind gegenseitig stolz, weil: wir haben (wenigstens, ein bisschen) gelernt, mit dingen, abzuschließen. wir können abhaken, wir denken nicht mehr so oft daran.
  5. wir halten nötigen abstand, fahren wenig u3 nachts, weil reeperbahn und dann noch dom. wir halten bettruhe, wenn die erkältungswelle uns einholt; wir halten es gar nicht lange aus, nur im bett zu liegen.
    wir halten uns an unseren stiften fest, fünf minuten straight, und dann worte auf papier. wir tauschen aus und saugen ein, wir halten atem an, bei schönen worten, und teilen kreisförmig sprache. wir lesen uns erdende worte vor, wir machen die stimme ganz tief dabei, zum wohlfühlen. f. erzählt von beruhigenden dinodokus (lieblingsdinos: oxalaia & sinosauropteryx) und ich gucke alte friends-folgen; sie tuen immer noch gut, und dann mord mit aussicht, wieder von vorne.
  6. wir halten uns an konzertkarten fest, an samstagen die geburtstagsgirlanden bereiten und bekommen besuch von so schönen menschen, mit denen man zuhause geteilt hat und die sich immer noch danach anfühlen. wir sind melancholisch, ein bisschen, und halten viel von einschätzungen von so starken frauen. wir verhalten uns im stadion st. pauli gemäß und danken s. für tickets und die fußballerklärungen. wir sehen esaklierenden cops beim blinden pfeffersprayen zu und halten uns bedeckt, halten uns fern von irrsinn.
  7. stattdessen organisieren wir: wir halten plena und uns davon ab, auseinanderzudriften. wir lesen kommentarspalten, nicht. wir positionieren uns in einem minenfeld. wir fordern positionierung von einrichtungen, wir halten auf google docs unterschriften und unzufriedenheit fest. wir sitzen in seminarräumen, in denen es klickt, während uns zusammenhänge aufgehen. wir halten in anderen den atem an, wenn menschen problematische begriffe werfen. wir rasten sachlich aus und pöbeln aus prinzip. wir wünschten uns: flinta* könnten sich mehr trauen, den mund aufzumachen. wir halten dagegen. uns gegenseitig den rücken frei. und menschen ihre stellungen in hierarchien vor, wenn sie diese nicht reflektieren. wir halten am 25.11. eine schweigeminute ab. wir schweigen auch nach dem theaterstück über hanau; wir halten das stück fast nicht aus. wir radikalisieren uns aus logischer konsequenz.
  8. wir halten, uns fest. wir halten den blickkontakt, wir blicken zielgerichtet und mutig. wir verknoten perspektiven und schichten sie übereinander, um mehr zu sehen, mehr greifen zu können.
    wir halten gefühle in eckigen klammern fest, wir halten kontakt über distanzen.
  9. weil: es gibt ein halten mehr. wir halten uns fest, an uns, gegenseitig.
    an dem ersten punsch, bei m. und m.s kleidertauschfeier, an sternförmigem licht an unserer zimmerdecke, an umarmungen, an den schönen überforderungen, an couchpartys mit brausepopcorn: an funken in uns drin.
    wir halten fest: es braucht das gemeinsame hoffen, das aneinander festhalten, das zusammenhalten. es braucht die haltung. wir richten uns gegenseitig wieder auf.

<3

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Gefällt dir das sai-magazin?