Afghanistan – Stimme einer Bürgerin

Text: Nafisa Amini; Einleitung: Anna-Farah Fricke und Mathis Gilsbach | Titelbild: Mathis Gilsbach

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Hinweis: Der Text enthält Beschreibungen von Gewalt.

Einleitung und Kontext

Wenige Wochen nach dem überstürzten Abzug westlicher Truppen im August 2021 eroberten die Taliban Afghanistans Hauptstadt Kabul. Viele Menschen versuchten zu fliehen. Es kam zu verzweifelten Szenen am Kabuler Flughafen während der chaotischen Evakuierung von Soldaten und Ortskräften. 

Die Taliban sind eine islamistische Bewegung in Afghanistan und Pakistan, die einer extremen Auslegung des sunnitischen Islams folgen. Nach der zehnjährigen Besatzung Afghanistans durch die Sowjetunion (1979-1989) und einem darauf folgenden brutalen Bürgerkrieg übernahmen die Taliban 1996 schon einmal die Herrschaft über Afghanistan. Damals errichteten sie ein Regime, das von Intoleranz und Repression gegenüber Frauen, ethnischen Minderheiten und Andersgläubigen, wie etwa den schiitischen Hazara geprägt war. Dieses Regime wurde nach den Anschlägen von 9/11 von einer NATO-Mission unter Führung der USA gestürzt, da es beschuldigt wurde, die Attentäter zu schützen.

Zwischen 2001 und 2021 etablierte die internationale Gemeinschaft unter Führung der USA eine neue afghanische und demokratische Regierung in Kabul. Die Beständigkeit dieser Regierung beruhte auf der militärischen Unterstützung durch NATO-Truppen.

Wie bei ihrer ersten Machtübernahme 1996, begannen die Taliban auch dieses Mal bereits mit der Ankündigung des Abzugs westlicher Truppen nach und nach ländliche Regionen einzunehmen. Die durch die westliche Besatzung gestützte Regierung brach so noch während des Abzugs der Truppen zusammen. Die Unterschiede zwischen den ländlichen Regionen und der Hauptstadt Kabul sind groß. In der westlichen Berichterstattung waren besonders die Menschen aus Kabul präsent, sie repräsentieren jedoch nicht das ganze Land.  

Schon wenige Wochen nach der Machtübernahme, die mit einem enormen Medieninteresse verbunden war, verschwand der Konflikt weitestgehend von der westlichen Bildfläche. Doch die Geschichten der Menschen, vor Ort und auf der Flucht, gehen weiter.

Über die aktuelle Situation, den Ursprung des Konflikts und die Perspektiven für Afghanistan wollten wir mit afghanischen Aktivist:innen sprechen. Bei unserer Recherche stießen wir auf die Frauenrechtsaktivistin Nafisa Amini, die uns auf unsere Interviewanfrage hin anbot, einen Beitrag zu schreiben. Sie legt in diesem ihre Erfahrungen mit dem Regime der Taliban sowie ihre Perspektiven auf die menschenrechtliche Situation vor Ort dar, und erzählt von ihren Forderungen und Wünschen für die Zukunft.

Sich selbst bezeichnet Nafisa als eine Bürgerin, die an die Wirksamkeit von politischem Diskurs und konstruktiver Kritik glaubt. Ihr Beitrag trägt daher den Titel “Voice of a Citizen”. Sie lebt und arbeitet inzwischen in Europa.

Stimme einer Bürgerin

Als die Taliban zum ersten Mal die Macht übernahmen, haben sie Frauen aus der öffentlichen Gesellschaft ausgeschlossen. Sie haben sozusagen die Rolle der Frau abgeschafft.

Ich erinnere mich noch daran, wie aggressiv sie Frauen behandelten. Ich erinnere mich daran, wie die Taliban meine Mutter bedrohten, weil sie heimlich Mädchen unterrichtete. Ich erinnere mich an die Männer, die im zentralen Bezirk der Provinz, in der ich lebte, erhängt wurden. Die Taliban haben in den letzten 20 Jahren brutale und katastrophale Taten begangen. Wir dürfen nicht vergessen, wie sie unschuldige Menschen getötet haben, darunter Student:innen, Journalist:innen, Ärzt:innen, Aktivist:innen und sogar Frauen bei der Geburt ihrer Kinder.

Am 23.03.2022 haben die Taliban nach nur sieben Monaten an der Macht erneut beschlossen, Mädchen den Zugang zu Bildung zu verweigern. Mädchen ist es nun wieder verboten die Schule nach der sechsten Klasse weiter zu besuchen. Das ist furchtbar. Die Taliban haben das Schicksal von 40 Millionen Menschen als Geisel genommen.

Ich dachte, die künftige Generation würde nicht das erleben, was wir erleben mussten. Aber jetzt werden die kommenden Generationen dasselbe erleben müssen wie wir, wenn wir uns nicht gegen diese Brutalität wehren. Die Taliban haben sich nicht verändert! Alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans leben in dunklen und unsicheren Verhältnissen.

Seit dem Doha-Abkommen zwischen den Taliban und den USA und der Machtübernahme im August 2021 monopolisieren die Taliban ihre Macht, sie verletzen die Meinungsfreiheit, foltern Journalist:innen, vertreiben ethnische Gruppen aus ihren Häusern, verbieten das Sprechen von Farsi, verhaften ehemalige Mitglieder des Militärs und töten diese, meist unter falschen Vorwänden. Protestierende Frauen werden verhaftet, die Taliban missachten die Privatsphäre von Menschen und verweigern Mädchen den Zugang zu Bildung.

Ich selbst bin Aktivistin, vor der erneuten Eroberung Afghanistans durch die Taliban, war mein Ziel, mit meinem Stift und meiner Stimme für Menschenrechte, Gerechtigkeit und Gleichheit zwischen den Geschlechtern zu einzustehen. Nach der Übernahme habe ich beschlossen, außerdem für Freiheit und für gleiche Bürgerrechte zu kämpfen. Darin sehe ich eine kollektive Verantwortung.

Ich bin gegen Terrorismus, gegen Extremismus und gegen die Monopolisierung von Macht. Wenn wir Lösungen für die aktuellen Probleme in Afghanistan finden wollen, müssen wir meiner Meinung nach analysieren, woher sie kommen, uns also die Wurzeln dieser Probleme ansehen.

Sowohl externe als auch interne Faktoren spielen in dieser Krise eine Rolle. Um die Situation zu verstehen, denke ich, ist es wichtig sich zunächst die externen Faktoren anzuschauen. Es ist richtig, dass Afghanistan immer wieder als Spielwiese missbraucht wurde. Andere Länder haben Afghanistan aufgrund ihrer politischen und wirtschaftlichen Interessen benutzt, um dort ihre Machtkämpfe auszutragen.

Ich finde beispielsweise, die Vereinten Nationen sollten sich noch einmal darauf besinnen, mit welchem Ziel sie gegründet wurden. Sie wurden gegründet, um Frieden zu schaffen und zu erhalten, und um Sanktionen zu verhängen mit dem Ziel die Politik von Regierungen zu verändern, die den Terrorismus in der Region unterstützen. Was die Afghanistan-Krise betrifft, so sollte Pakistan sanktioniert werden. Andernfalls wird dieses Spiel weitergehen, und die terroristischen Gruppen werden weiter wachsen. Seit vielen Jahren haben wir es mit Pakistans doppeltem politischen Spiel und seiner Spaltungsstrategie zu tun, mit den Lügen und Irreführungen Pakistans in Bezug auf Afghanistan gegenüber der internationalen Gemeinschaft, während Pakistan die Quelle des Terrorismus ist. Die ganze Zeit über haben die Taliban-Terroristen dort gelebt und sich in den letzten 20 Jahren Hochburgen geschaffen. Pakistan mischt sich immer in die Angelegenheiten unseres Landes ein und will aus bestimmten eigenen Interessen nicht, dass der Frieden in Afghanistan gesichert wird. Pakistan hat Tausende von „Madrasas“ eingerichtet – extremistische Schulen, in denen Kinder von extremistischen Köpfen ausgebildet und dann unter dem Namen „Talib“ nach Afghanistan geschickt wurden. Die Terroristen, die in Afghanistan waren und sind, waren also nur Soldaten. Die Soldaten, die das tun, was ihre Führer beschließen. Wenn die Welt den Terrorismus und die Aufstände stoppen will, sollte sie das dort tun, wo die Terroristen unterstützt werden.

Das ist eine traurige Realität, aber in meinen Augen nicht der ganze Ursprung unserer jetzigen Krise.

Ich frage mich: Wie sind wir in diese kritische Situation geraten? Warum erleben wir in Afghanistan seit Jahrzehnten immer wieder neue Zusammenbrüche und Krisen?

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns auch die internen Faktoren anschauen. Es gibt in meinen Augen drei Hauptursachen: die Monopolisierung von Macht, die ethnisch orientierte Politik und der Extremismus. Diese drei Faktoren sind es, die diese Krise verursacht und anderen Ländern die Tür geöffnet haben, sich immer wieder einzumischen.

Fast 300 Jahre lang wurde die Macht von den Führern einer ethnischen Gruppe, den Paschtunen, monopolisiert. Obwohl sie an der Macht waren, lebte nicht einmal das paschtunische Volk in Wohlstand. In der Vergangenheit wurde die ethnische Gruppe der Hazaras diskriminiert und gefoltert, weil sie Hazara waren. Sie hatten keine gleichen Rechte und lebten als Bürger:innen zweiter Klasse. Jetzt werden die Tadschiken gefoltert und diskriminiert, weil sie Tadschiken sind. Außerdem werden den Bürger:innen ihre Bürgerrechte vorenthalten.

Obwohl ich die Taliban nicht als Vertreter meiner paschtunischen Landsleute akzeptiere, liegt die Macht in der Hand der Taliban, die Paschtunen sind. Der frühere Präsident Hamed Karzai unterstützte die Taliban, indem er sie legitimierte, und der frühere Präsident Ashraf Ghani unterstützte sie, indem er Afghanistan an die terroristischen Taliban auslieferte.

Darüber hinaus werden sie von Pakistan unterstützt, da Pakistan ein Interesse an der Monopolisierung der Macht hat, was zu politischer Instabilität führt.  Die Kultur der Monopolisierung hat alle Ebenen der Gesellschaft erreicht.

In den letzten 20 Jahren haben die meisten Politiker, Staatsoberhäupter und Parlamentsabgeordneten ihre Positionen und damit ihre Macht manifestiert. Bürger:innen ohne Netzwerke und direkte Verbindungen zu den Machthabern hatten keine Chance, für eine Wahl nominiert zu werden, obwohl sie über das Wissen und die Erfahrung für diese Positionen verfügt hätten.

Das zweite Problem ist die ethnisch orientierte Politik. Menschen in Afghanistan haben keine echten Bürgerrechte. Sie haben nicht die gleichen Möglichkeiten, zu wählen und gewählt zu werden. Wenn Politiker:innen über die ethnischen Gruppen in unserem Land sprechen, nennen sie nur die vier größten: Paschtunen, Tadschiken, Hazara und Usbeken. Alle anderen ethnischen Gruppen werden als kleine Minderheiten bezeichnet und auf „die Anderen“ reduziert. Ich bin es so leid das zu hören, „die Anderen“. Diese Gruppen – Qizilbash, Turkman, Sadat, Baloch, Turk, Pashai, Nuristani, Gujjar, Pamiri, Kirgisen, Araber, Sikh, Hindu und Brahui – sind bevölkerungsmäßig klein, sie hatten aufgrund der ethnisch orientierten Politik nie eine Chance, Teil der Regierung zu werden.

Deshalb fordere ich eine bürgernahe Politik, damit jeder Bürger und jede Bürgerin Afghanistans die Möglichkeit hat, an der Regierung mitzuwirken. Ich fordere eine neue soziale Ordnung, in der alle Bürger:innen das Recht auf Mitbestimmung, auf Bildung und freie Meinungsäußerung haben.

Wir müssen die Sprachen und Identitäten aller akzeptieren und respektieren, um eine bürgernahe Politik zu erreichen.

Extremismus ist das dritte große Problem in Afghanistan. Der jahrelange Krieg und das Fehlen eines guten Bildungssystems haben zu einer drastischen Zunahme des Extremismus geführt. Ich habe mit vielen Menschen über Menschenrechte, Frauenrechte, ein demokratisches System und Freiheit gesprochen. Einige meiner Gesprächspartner sagten mir: „Wir wollen keine Freiheit und keine Demokratie“; „Wir haben gesehen, was Freiheit und Demokratie mit sich bringen. Korruption!“. Diese Aussagen zeigen deutlich, dass es ein Missverstehen der wahren Bedeutung von Demokratie und Freiheit gibt. Deshalb vertrauten die Menschen den Taliban, die behaupteten, eine Führung nach den Werten und Regeln des Islam zu etablieren. Sie dachten, es sei gut für sie, die Taliban zu unterstützen. Aber die Taliban haben nie nach dem wahren Islam gehandelt, in dem es um Fürsorge, Liebe, Respekt, Gerechtigkeit, Bildung und Tugendhaftigkeit geht. Der uns sagt, dass wir keine unschuldigen Menschen verletzen sollen.

Meine Antwort an alle, die Zweifel haben, lautet also: Alles, was wir in Afghanistan unter dem Namen der Freiheit und der Demokratie erlebt haben, war nur eine Illusion von Demokratie und Freiheit. Es hatte nichts mit dem wahren Wert der Demokratie zu tun, deren Grundlage eine „Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk“ ist.

Ja, wir hatten Korruption, aber der Grund dafür war nicht das demokratische System oder die Freiheit. Der Grund war ein Mangel an nationalem Interesse, ein Mangel an Akzeptanz von Bürgerrechten aller ethnischer Gruppen und die Einmischung anderer Länder in die inneren und äußeren Angelegenheiten Afghanistans. Freiheit ist das Recht auf freie Meinungsäußerung, auf Bürgerrechte und auf Selbstbestimmung, und das Recht auf freie Wahlen. Freiheit bedeutet, über die Interessen unseres Landes selbst entscheiden zu können.

Wir sind noch nicht frei, denn die Taliban beanspruchen die gesamte Macht für sich. Wir, das Volk, haben keine Meinungsfreiheit, keine Bürgerrechte und sind immer noch nicht die Entscheidungsträger in unserem eigenen Land.

Ich fordere die internationale Gemeinschaft dringlichst dazu auf, die Taliban nicht anzuerkennen, da dies nicht im nationalen Interesse Afghanistans liegt. Die Anerkennung der Taliban durch die internationale Gemeinschaft führt zu einer Normalisierung von Terrorismus und Extremismus. Dies wird mit Sicherheit negative Auswirkungen sowohl auf Afghanistan als auch auf terroristische Gruppierungen in der ganzen Welt haben. Durch die Anerkennung der Taliban würde sich die Monopolisierung der Macht weiter manifestieren.

Ich möchte, dass die internationale Gemeinschaft aufhört, etwas zu unterstützen, das immer wieder zu Zusammenbrüchen und Krisen in Afghanistan führt. Ich wünsche mir, dass die internationale Gemeinschaft die Menschen in Afghanistan und die anhaltende Krise nicht vergisst. Ich möchte, dass sie auf die Stimmen derer hört, die sich wehren, die die brutalen Taten der Taliban verurteilen.

Jetzt, wo wir in Afghanistan alles verloren haben, muss die Lösung darin bestehen, die Ursachen der Krise zu beseitigen. Die Menschen müssen umdenken und patriotische Politiker unterstützen, die sich für die nationalen Interessen des afghanischen Volkes einsetzen – und nicht Monopolisierung der Macht, Extremismus und Terrorismus unterstützen.

Dies ist meine Meinung, als Bürgerin, zu den Ursachen dieser verheerenden Situation. Natürlich glaube ich an den politischen Diskurs, aber ich glaube auch an konstruktive Kritik. Ich glaube an die Vernetzung mit anderen, aber ohne eine Politik des doppelten Standards.

Ja! Wir wollen Frieden, aber wir wollen auch Freiheit. Wir wollen freie Wahlen, Menschenrechte und Bürgerrechte. Deshalb möchte ich, dass alle, die über Afghanistan sprechen, dies mit Verantwortung tun.  

Nafisa Amini



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