Von: Aaron Boos | Illustrationen: © Julie Matthées
Stell dir vor, du lädst einen Freund zu dir nach Hause ein, um Zeit mit ihm zu verbringen. Ihr geht an einen Badesee, kocht am Abend etwas zusammen und am nächsten Morgen fährt er auch schon wieder weiter. Würdest du zum Abschied noch 30€ verlangen, weil er bei dir geschlafen hat? Wenn du diese Frage mit nein beantwortest, dann hast du das Konzept von handelsfrei verstanden.
Ich heiße Aaron, bin 22 Jahre alt und in einem kleinen Dorf in Süddeutschland aufgewachsen. Schon von klein auf fühlte ich mich in unserer Gesellschaft immer unwohler, da ich gezwungen wurde, Dinge zu machen, die sich für mich nicht gut angefühlt haben. Zum Beispiel musste ich in die Schule gehen und dort Inhalte lernen, die mich gar nicht interessiert haben. Als ich älter wurde und irgendwann gemerkt habe, wie viele Probleme es auf dieser Welt gibt und wie viele Menschen nicht genug zu Essen und zu Trinken haben, habe ich oft darüber gegrübelt warum das so ist.
Nach der Schule habe ich eine andere Bildung genossen – ich wusste nicht so recht, was ich machen sollte, also dachte ich mir, reisen zu gehen. Nach Australien sollte es zuerst gehen und dort angekommen öffnete sich eine ganz neue Perspektive auf das Leben. Durch das Reisen habe ich unglaublich viele verschiedene Erfahrungen gemacht: Ich war zum Beispiel auf vielen WWOOFing Orten, an denen ich für ein paar Stunden Arbeit auf einer Farm einen Schlafplatz und Essen bekommen habe. Ich nahm an einem 10-Tage-Schweige-Meditationskurs teil und probierte in verschiedenen Ländern das Trampen aus. Das hat mich persönlich sehr weitergebracht.
Einerseits habe ich auf meiner Reise wunderschöne Orte des Planeten Erde gesehen, wunderbare Menschen, andere Kulturen und fremdes Essen kennengelernt, wodurch ich nochmal einen ganz anderen Blick auf das Leben bekommen habe. Auf der anderen Seite habe ich auch in vielen Ländern gesehen, dass Menschen unter ganz anderen Bedingungen leben, als ich in Deutschland gelebt habe. In Nepal beispielsweise habe ich kleine Kinder gesehen, die schwer arbeiten mussten, damit sie Geld für sich oder ihre Familien verdienen konnten. In Australien habe ich während des Schnorchelns tote Korallenriffe bemerkt und in Indonesien ist mir der Müll aufgefallen, der auf der Straße verbrannt oder einfach in die Natur geworfen wurde.
Das hat mich sehr nachdenklich gemacht und ich wollte verstehen, wie es dazu kommen konnte. Was bringt Menschen dazu, sich so zu verhalten? Daraufhin informierte ich mich und habe durch Bücher und meine Erfahrungen festgestellt, dass die Welt in der wir leben komplett auf Handel aufgebaut ist. Menschen tauschen ihre Energie, Zeit, Fähigkeiten und Wissen meist gegen Geld, um sich damit das zu kaufen, was sie brauchen und wollen. Das geschieht auf der ganzen Welt, egal ob in Tokyo, Berlin oder Kapstadt. Das ist ja auch normal, dachte ich mir – doch genau hier ist der springende Punkt: Denn vielleicht bringt dieses Handelsumfeld Menschen dazu, sich auch schädlich zu verhalten? Die Bücher, die ich daraufhin gelesen habe, haben genau so argumentiert.
Während Handel zwar ein notwendiges Mittel für die Entwicklung von Gesellschaften war, schafft er auch ein Ungleichgewicht von Macht zwischen Menschen. Ein Beispiel: Facebook mag vielleicht als Idee angefangen haben, Menschen auf der ganzen Welt zu vernetzen, doch heute hat es sich in einen riesigen Konzern verwandelt, der jegliche Daten von Menschen sammelt, damit er personalisierte Werbung an seine Nutzer*innen schalten kann- Facebook macht dadurch ca. 90% seiner Gewinne. Das führt zu einer großen Verwirrung um den Begriff „kostenlos“, denn Facebook ist alles andere als kostenlos: Die Nutzer*innen handeln ihre Daten und Aufmerksamkeit auf Facebook als Gegenleistung für die Funktionen ihres sozialen Netzwerks, und Facebook sammelt und tauscht all das gegen Geld. Deswegen ist Facebook geneigt, seine Gewinne (seine Handelsvorteile) an die erste Stelle zu setzen und seine Nutzer*innen an die zweite Stelle. Das Gleiche passiert bei Google und so ziemlich jeder anderen Plattform oder Dienstleistung, die auf Nutzerdaten angewiesen ist, um sich zu finanzieren: vom Gesundheitswesen über die Lebensmittelproduktion bis hin zur Bildung.
Der einfache Handelsprozess von „Ich tue etwas, um etwas anderes als Gegenleistung zu bekommen“ schafft also ein Ungleichgewicht von Macht. Das regt egozentrische und perverse Verhaltensweisen an, wie wir im Fall von Facebook, VW, Cumex und so vielen weiteren Methoden und Ereignisse sehen können. Dieses Ungleichgewicht führt zu vielen Problemen, die wir heute in der Welt sehen: Hungersnot, Korruption, Klimawandel, Verschwendung, Klickköder-Nachrichten, schlecht durchgeführte wissenschaftliche Forschungen, Mangel an Gesundheitsversorgung, schlechte Produkte, verzerrte menschliche Werte, soziale Schichtung und Ungleichheit, Umweltzerstörung und so weiter.
Puhh, als ich das verstanden habe, war ich erst mal sprachlos. Ich fragte mich, wie eine Welt ohne Handel denn aussehen könnte? Auch dafür gibt es schon viele Ideen, wie beispielsweise Wikipedia. Wikipedia bietet handelsfreien Zugang zu Wissen an. Das heißt ich muss nichts geben, damit ich einen Zugang bekomme. Ein anderes Beispiel ist die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“, welche Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, Religion, politischer Ansicht oder ihrem Alter medizinisch versorgt. Auch im Software Bereich gibt es die Linux Community mit vielen Menschen, die handelsfreie Apps und sogar Betriebssysteme anbieten – Großartig!
Ich arbeite selbst freiwillig für das Projekt Trom, das ausführlich erklärt, warum und wie Handel so viele Probleme schafft und was wir dagegen tun können. Wir haben eine Website aufgebaut, die die Problematik kurz erklärt, damit Menschen, Organisationen und Projekte auf diese Website verweisen können, um andere Menschen auf dieses Thema aufmerksam zu machen. So wird nicht nur erklärt, warum Handel Probleme erschafft, sondern es werden auch handelsfreie Waren und Dienstleistungen gefördert.
Wenn du also auch etwas anbietest, egal ob Lebensmittel, medizinische Hilfe, Videos, Bücher oder anderes, ohne etwas zurück zu verlangen, lade ich dich ein, es handelsfrei zu nennen. Dadurch schaffst du ein Bewusstsein für das Thema. Leider kenne ich keine Politiker*in, keine hochrangige Organisation, keine gesellschaftliche Debatte, die sich des Problems bewusst zu sein scheint. Deswegen ist der Bildungsaspekt der wichtigste.
Durch das Anbieten von handelsfreien Waren und Dienstleistungen hilfst du nicht nur anderen, weil sie dazu Zugang erhalten, sondern auch dir selbst, da es keine Kraft gibt, die dich in „unethisches“ und gewinnorientiertes Verhalten zieht. Durch das Erschaffen von handelsfreien Waren oder Dienstleistungen bist du meiner Meinung nach das größte wohltätige Lebewesen, das es gibt.
Und jetzt noch größer gedacht: Eine Gesellschaft, in der das Meiste von dem, was Menschen brauchen und wollen, handelsfrei angeboten wird, ist eine Gesellschaft, in der viele Probleme, die wir heute in der Welt sehen, nicht vorhanden sind. Es würde kaum einen Anreiz für Menschen geben, Probleme wie Korruption, Umweltzerstörung und Kriminalität überhaupt erst zu verursachen.