Besser.

Text und Fotografie: Anonym

Triggerwarnung: In diesem Text werden Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen und sexualisierte Gewalt thematisiert. Wenn du selbst betroffen bist, entscheide bitte selbst, ob du weiterlesen möchtest. Unterstützung findest du hier Hilfetelefon – UBSKM (beauftragter-missbrauch.de) oder über die Links am Ende der Seite.

(© Anonym) 

Ich bin so müde davon, meinen Körper zu hassen
Jedes Mal, wenn jemand mich berührt,
fängt mein Geist an, meinen Körper zu verlassen
Alles wird schwarz, denn ich fliehe in die Dunkelheit,
um nicht zu sehen, was mit mir passiert
Sex sollte ein Spiel sein, bei dem keiner verliert
Doch ich suche jedes Mal weit und breit
nach den Teilen von mir, die mir genommen wurden
Vor langer Zeit

Es gibt nämlich Schmerz, der viele Winter überdauert
Und einem dann nach Jahren wieder auflauert
Angreift, und einem so die eigene Schwäche
– oder soll ich sagen Verletzlichkeit –
beweist
Ich gebe keinem die Schuld, auch nicht ihr
Ich gebe keinem die Schuld, außer mir
Ich bin so müde davon, meinen Körper zu hassen,
doch ich kann es einfach nicht lassen
Jede Faser meines Fleisches fühlt sich dreckig an
Warum lasse ich Leute an mich ran,
die mir fremd sind
Warum denke ich noch über damals nach
Ich war doch nur ein Kind
Ich müsste es doch bestimmt hinter mir lassen können
Sagen, dass es falsch war und schlicht
dem Bösen in meiner Geschichte den Rücken kehren
Doch so einfach ist es nicht,
die Erinnerungen abzuwehren
Mein Körper lässt sich nicht ablenken
und erinnert sich an alle Stellen, die zu früh zu nah angefasst worden sind
Das Absurde daran ist doch,
mich mit dem Schlechten zu identifizieren, das mir zugestoßen ist
Und mich jedes Mal in der Dunkelheit der Erinnerungslosigkeit zu verlieren,
wenn jemand mich
nach all den Jahren
an den gleichen Stellen anfasst.


(© Anonym) 

Ich kann Sex nicht genießen
denn meine Vergangenheit zwingt mich dazu,
in diese realitätslosen Zustände zu zerfließen
Abwesend zu sein
während über mich bestimmt wird
so wie damals über mich bestimmt wurde
Es ist vielleicht auch diese absolute Machtlosigkeit,
die mir den Atem nimmt
Es ist vielleicht auch das Kind in mir,
das weint und weint und weint und verzweifelt nach Luft ringt
Weil alles sich so gleich anfühlt, wie damals
Und weil ich irgendwie lernen muss, dass Dinge sich ändern können
Dass nicht jeder Griff nach mir ein Über-griff ist
Dass ich nicht zur ewigen Passivität verdammt bin
Und nicht vor meiner eigenen Lust fliehen muss
Ich frage mich: Wie heilt man Wunden, die so tief sitzen?
Und das Kind in mir flüstert: von innen
Von innen
Von innen
Das Blut muss erst gerinnen
Bevor sich die Narbe bilden kann
Eine Narbe: eine Wunde, die nicht mehr schmerzt
Außer in der Erinnerung, die uns nicht vergessen lässt,
woher sie kommt,
dass sie niemals geht
Und für immer ein Teil von uns ist; und wahrscheinlich nicht der Schönste,
aber vielleicht der Stärkste

Vielleicht der, der uns davor bewahrt, zu vergessen
Der uns mahnt, im Hier und Jetzt zu bleiben,
statt in die Dunkelheit zu fliehen
Uns nicht vor uns selbst zurückzuziehen,
sondern die Wahrheit zu sehen:
Die Wahrheit, in der wir verletzt wurden, aber jetzt mehr als nur verletzt sind
Mehr als nur ein Opfer
Aber auch auf keinen Fall der Täter, auf keinen Fall selbst Schuld
Sondern nur ein Mensch, dem etwas Schlechtes passiert ist,
der es aber mit aller Kraft schaffen kann, das Schlechte hinter sich
oder zumindest nicht mehr so nah an sich heran
zu lassen.


(© Anonym) 

Ich weiß nicht, ob ich je wieder vertrauen kann, jemanden so nah an den eigenen,
fremd gewordenen Körper heranzulassen
Doch zum ersten Mal hoffe ich es.
Ich weiß nicht, ob ich meinen Körper jemals lieben kann
Doch zum ersten Mal versuche ich es.
Und ist es nicht der Versuch, der zählt?
Ist es nicht unsere Resilienz, die uns zu dem macht, was wir sind;
Die dafür sorgt, dass dieser vernarbte Körper statt nur Ferienresidenz ein Zuhause wird,
in dem wir immer bleiben?
Dem wir uns nicht entziehen, weil wir nicht mehr vor uns fliehen.
Mein Körper ist ein Tempel,
nicht, weil er beraubt wurde, sondern weil ich hier Andacht halte,
weil ich hier weiß, was mir heilig ist.
Ich bin mehr als mein Leid
und trotzdem muss ich akzeptieren, dass etwas davon für immer bei mir bleibt.
Vielleicht, um mich und andere zu warnen.
Vielleicht, um Geschichten zu erzählen
von dicken Rüstungen und wie man sie ablegt, und für wen.
Geschichten, die euch am Ende
ganz leise
ins Ohr flüstern: es wird besser.
Es wird besser.
Glaub mir, es wird so viel besser.


(© Anonym) 

Wenn du selbst von sexualisierter Gewalt betroffen bist, findest du hier Hilfe:
https://www.hilfetelefon.de/das-hilfe…
https://www.hilfeportal-missbrauch.de…
https://www.big-berlin.info
https://www.wildwasser.de

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