Text von: Anna Dröber | Collagen: © Mathis Gilsbach
Die griechische Insel Samos gehört zu den Hauptschauplätzen der europäischen Migrationspolitik. Der „Hotspot“ unmittelbar vor der türkischen Küste ist für 650 Bewohner:innen ausgelegt. Im Sommer 2020 leben hier rund 5400 Menschen in einem Camp aus Containern und Zelten ohne eine ausreichende Grundversorgung. Mitte September hat das Corona-Virus die Menschen hier erreicht.
Die Autorin dieses Textes ist eine 23-jährige Studentin, die seit Anfang August für die Nichtregierungsorganisation „Samos Volunteers “ auf Samos arbeitet.
Die folgenden fünf Gedankenschnipsel sind Notizen, die in Begegnungen, Gesprächen und beim Teilen von Gefühlen entstanden sind.
Sie spiegeln die subjektiven Wahrnehmungen der Autorin in diesen Momenten wider. Alle Menschen, die in diesen Begegnungen vorkommen, leben im Camp auf Samos, welches seit dem Corona-Ausbruch am 15. September unter dem Eindruck des angeordneten Lockdowns steht. Es wurden bereits über 80 Menschen positiv auf Corona getestet. Die Zahlen steigen jeden Tag. Außerdem hat es seit dem Beginn des Lockdowns bereits zwei Brände gegeben. Wir bereiten uns auf weitere Eskalationen vor.
04/09/2020 – Muffin-Gespräche
Wir sitzen im Hinterhof des ‚Women Space‘ und trinken Tee.
Dieser Ort gehört euch. Kein Mann ist erlaubt.
Jede von uns hat einen Buntstift in der Hand und wir malen ein Muffin-Mandala aus.
Wir tunken die Sahnehäubchen und Zuckerstreusel in unterschiedliche Farben.
Ihr sagt, das Leben im Camp ist hart.
Ihr sagt, im Camp ist es gefährlich für euch und eure Töchter.
Ihr schaut mich erwartungsvoll an.
„I know.“
Campbewohner:innen pinkeln in der Nacht in Flaschen, tragen „Erwachsenenwindeln“ oder verweigern ihrem Körper schlichtweg dem Drang, eine Toilette aufzusuchen, nachzugehen. Der Grund dafür: Es ist für sie zu gefährlich, in der Dunkelheit ihr Zelt zu verlassen. Die Angst vor Gewalt, Raub, sexuellen Belästigungen und Vergewaltigungen ist allgegenwärtig.
27/08/2020 – Rattenbisse
Du kommst immer sehr pünktlich zum Englischunterricht.
Heute kommst du 5 Minuten vor dem Ende der Stunde.
Du hast einen dicken Verband um deinen Zeigefinger.
Ich frage, was passiert ist.
Du versuchst es zu erklären und deine Klassenkameradinnen helfen dir.
„Big mouse, big mouse!”
Ich frage: „Did you get bitten by a rat while you were sleeping?”
“Yes rat, rat” – “big rat”
Nach der Stunde realisiere ich schockiert, dass meine Schülerinnen so das englische Wort für „Ratte“ gelernt haben.
Im Camp gibt es Ratten, Schlangen, Skorpione und andere gefährliche Tiere. Sie stellen eine immense Bedrohung für das Leben der Menschen dar. Zum Teil benutzen Kinder tote Rattenkörper als Spielzeug. Zusätzlich sind Bettwanzen im Schlafsack und Krätze-Milben unter der Haut für viele Bewohner:innen Normalität.
07/09/2020 – Stühle vor dem Reichstag
Wir unterhalten uns über die europäische Migrationspolitik.
Du kennst dich aus.
Ich bemerke, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, wie schrecklich es ist zuzusehen, wenn Politiker:innen über den Verlauf des eigenen Lebens entscheiden.
Du fragst, ob ich denke, dass 13.000 Stühle vor dem Reichstag etwas für dich ändern werden.
Du kennst mich gut. Ich kann dich nicht anlügen.
Deshalb sage ich:
„I don’t know – but I hope.”
Am 7. September werden in einer Protestaktion 13.000 Stühle vor dem Reichstagsgebäude in Berlin aufgestellt. Sie sollen ein Zeichen setzen für die Asylsuchenden, die in dem Camp Moria auf der griechischen Insel Lesbos festsitzen. Ein Zeichen für Solidarität und gegen Abschottung.
12/09/2020 – Glück in Griechenland
Du hast ein wunderschönes Armband für mich gemacht.
Für die Farben hast du blau und weiß ausgesucht.
Die griechischen Farben.
Du hast eine Nazar-Perle hineingeflochten.
Ein Symbol für Glück.
Es ist fast schon ironisch –
Wir beide werden Griechenland nicht mit Glück verbinden.
Griechenland wird von Ursula von der Leyen als Schutzschild Europas bezeichnet. Griechenland wird dazu angehalten, die Außengrenzen zu beschützen. Dabei werden unsere Außengrenzen durch illegale Push-Backs „beschützt“. Jeden Tag werden Menschenrechte auf dem griechischen Meer gebrochen. Jeden Tag wird den Menschen ihr Recht auf Asyl genommen. Hier in Griechenland ist es zur Normalität geworden. Und diese Praxis repräsentiert ganz Europa.
22/08/2020 – „Weiß Europa, was hier passiert?“
Du bist meine Kollegin.
Wir streichen gerade eine Wand.
Wir quatschen, hören Musik, lachen.
Auf einmal wirst du sehr ernst –
du fragst mich, seit wann ich über die Situation in den Camps wisse und ob Menschen in Europa es wissen würden.
Ich antworte, dass ich es schon immer wusste und alle in Europa es wissen.
Du bleibst still, bis die Wand fertig gestrichen ist.
Seit Jahren verschließt Europa die Augen vor den Völkerrechts- und Menschenrechtsbrüchen, die hier auf und vor den griechischen Inseln passieren.
Seit Jahren verschließt Europa die Augen vor den menschenunwürdigen Zuständen in den Lagern und an den Außengrenzen.
Seit Jahren werdet ihr nicht wie Menschen behandelt. Mein Kollege B. sagt: „I pray for my worst enemies to never become a refugee. This status takes away the human nature in you. It makes others to see him as an object to play with.”
Ihr seid diesem Status und den Konsequenzen, die damit zusammenhängen, willkürlich ausgesetzt.
Ihr müsst in Angst zwischen Ratten, Bränden, Dreck und Krankheiten leben.
Ihr seid die Leidtragenden der Abschottungspolitik Europas.
Ihr habt in Europa ein Symbol für Frieden gesehen.
Und die Schande Europas hat euch erwartet.
Diese Begegnungen, diese Momente haben in mir Spuren hinterlassen. Und ein Gefühl, dass ich vorher noch gar nicht so gut kannte: pure Wut. Das ist nicht mein Europa.