Wie man nicht heiratet (What is love?)

Text: Leonie Ziem | Illustrationen: Jennifer Beuse

Wenn ich das Warum-Spiel bis zum Ende spiele, bleibt dröhnende Ratlosigkeit. Wie passen diese ganzen großen Gefühle nur in meinen kleinen Körper? Und warum gibt es sie?

Ich kitzle gern mit meinem Mund über die Lippen des Menschen, den ich liebe. Die Leute nennen das »sich küssen«. Ich will jede einzelne, bescheuerte Wimper und jedes Schamhaar kennen. Ich spüre die grellen Sonnenstrahlen, sie leuchten in jeden schmutzig schönen Winkel und entblößen den Menschen, entblößen dich. Du schöner, du furchtbarer, du einzigartig verrückter Mensch. Mein Ozean schwappt über und du strauchelst in meiner Flutwelle. Ich glaube an die zerfetzende Wucht der Liebe.

Die Soziolog*innen Ulrich Bech und Elisabeth Beck-Gernsheim vergleichen den kollektiven Glauben an die Liebe mit Religionen. Während früher 90%, aller Lieder, Bilder, Gedichte und Erzählungen von Gott handelten, ist es heute die Liebe. Nicht mehr die Religion gibt nun das Versprechen absoluten Glücks, die Liebe beinhaltet es. Und: Was früher ein Weg aus der Normalität und dem Erschließen einer anderen Wirklichkeit bot, ist heute nicht mehr die Religion, sondern ebenfalls die Liebe. Die Liebenden „glauben“ an die Liebe und aneinander.

Die feministische Comiczeichnerin Liv Strömquist beschreibt es in ihrem Buch Der Ursprung der Liebe folgendermaßen: Ähnlich wie in der Religion gibt es in der Liebe die Erweckten
(„Hach, dass es so ein Glück überhaupt gibt! Durch ihn bin ich auferstanden!!“), die Atheist*innen („Ich glaube nicht an die Liebe!!“), die Missionar*innen („Herrje! Dann wirst du doch NIE glücklich!! Liebe ist der Sinn des Lebens!“), die Zweifelnden, die Orthodoxen („Am Valentinstag haben wir ein Candle-Light-Dinner, nur du und ich.“) und die Ketzer*innen („Hier sind meine fünf Verlobten!“).

Liebe funktioniert wie eine Mini-Religion

Dass Liebe die neue Religion ist, taucht gleich in mehreren Büchern von Strömquist auf. In ihrem neusten Buch Ich fühl’s nicht demonstriert sie die Theorie, wie die starken Gefühle in einer Liebe wie eine Mini-Religion funktionieren. Der Soziologe Randall Collins erklärt, dass man sich durch soziale Rituale mit den anderen Gruppenmitgliedern der eigenen Religion enger verbunden fühlt. In der Mini-Religion einer Zweier-Partner*innenschaft ist das Besondere, wie Strömquist herausstellt, dass die Personen selbst füreinander als heilig gelten – oder zumindest das Bild der anderen Person. In dieser Mini-Religion werden zudem genauso heilige Gegenstände hervorgebracht. Also wie Kruzifixe oder die Bibel im Christentum. In einer Liebesbeziehung werden Dinge wie der Jahrestag, „unser Song“, die Sammlung an Liebesbriefen, die man sich über die Zeit der Fernbeziehung geschrieben hat, zu heiligen Symbolen. „Der Witz von sozialen Ritualen ist, dass sie die menschliche Existenz mit Glauben, Stärke und Bedeutung aufladen, das Gefühl, dass es da etwas gibt, das größer ist als wir – und das ist es, was Religion (und ihre atheistischen Nachfolger: Politik, Sport, Musik, Subkultur, Liebesbeziehungen) so attraktiv macht“, schreibt Strömquist. So stelle ich mir die Liebe vor: Ohne Realist*innen, die in jeder Straßenecke herumlungern, aber dafür mit ganz viel Konfetti.

Die Hirnforscher Andreas Bartels und Semir Zek vom Londoner University College baten in den 90er Jahren mehrere tausend Studierende aus der britischen Hauptstadt und Umgebung, sich zu melden, falls sie sich „truly, madly and deeply“ verliebt fühlten. Das Ergebnis der Untersuchung war, dass die verliebten Studierenden sich in einem Zustand befanden, als hätten sie gerade gekokst.

Ja, du, der oft nur im Plural existieren kannst, weißt du, ich glaube daran, dass unsere Liebe nicht so banal enden kann, einfach so verpufft, das wäre… als würde man bei Shakespeare furzen. Ich glaube an die Explosion deiner Wut – sollte ich je aufhören, dich zu lieben. Ich glaube an das Erdbeben in mir, das mich wieder zum Singular macht, wenn du irgendwann nicht mehr willst, wenn all‘ unser gemeinsames Leben plötzlich schrumpft auf einen Begriff und ich bin plötzlich nur „Ex-Freundin.“

Aber warum ist das so? Das mit dem unsterblich verliebt sein, zwei Menschen, die zu Kompliz*innen des Lebens werden und dann – äh, frage ich wie Strömquist: „Vielleicht treffen wir uns ja Mal die Monate zu einer peinlich berührten Tasse Kaffee?“

Strömquist liefert Gründe dafür, warum man aufhört, an seine Mini-Religion zu glauben: Vermutlich ähnliche, wie wenn Gläubige aufhören, ihre Religion zu feiern. Zum Beispiel: Die gemeinsamen, sozialen Rituale werden nicht mehr veranstaltet oder man hat sich der Durchführung nicht hinreichend gewidmet. Die Gründe für den Austritt aus der katholischen Kirche sind zu 56% die Unzufriedenheit mit Lehre über Abtreibung/Homosexualität, zu 27% der Skandal um Missbrauch durch Geistliche und zu 43% unbefriedigte spirituelle Bedürfnisse.

In einer Beziehung kann das heißen, dass einem irgendwann auffällt, dass der*die andere ein ganz schönes Arschloch ist oder aber die eigenen Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Wenn so was passiert, ich also feststelle, dass meine Bedürfnisse nicht erfüllt werden, ist das vielleicht der großartigste Moment, weil ich endlich aufhöre, mein Idealbild auf meine*n Partner*in zu projizieren, und weiterziehe, ohne mich dauernd unglücklich zu machen. Oder aber dieser Moment offenbart sich als genau das Gegenteil von Liebe: Unsere Manier in dieser kapitalistischen Gesellschaft, unsere Liebesbeziehungen wie eine Ware zu konsumieren, die bestimmte Kriterien erfüllen muss (und wehe der Mensch, den ich liebe, sammelt lieber Joghurtbecher als mit mir zu dichten, dann muss er schleunigst umgetauscht werden).

Das Skript für Liebende

Der Mensch, den ich liebe, steht gerade in der Küche und malt eine Schicht weiß auf eine bereits bestehende Schicht weiß. Das Regal ist jetzt wirklich sehr weiß. Der Mensch sagt, er kann nicht damit aufhören, bis die Farbdose leer ist. Dann wird noch eine Schicht gemalt. Dieses überwältigende Bedürfnis tobt in mir, von diesem einen Menschen völlig und gar gekannt zu werden, als würde ich dadurch mehr leben. Doppelt, vielleicht.

»Willst du mich heiraten?«, habe ich im Kindergarten einen anderen Menschen gefragt, den ich damals liebte. Ich habe all meinen Mut zusammengenommen und sogar ein kleines Ständchen eingeübt. Ich war drei oder vier Jahre alt und er war schon ein Schulkind, kam in die Kita nur wegen des Horts.

»Nicht noch eine«, hat er geantwortet und mein kleines Herz damit wie eine Fliege mit einer Klatsche zermatscht. Das habe ich später meiner Mutter erzählt und sie hat es aufgeschrieben.

Heute bin ich froh, dass ich nicht schon mit drei Jahren geheiratet habe. Heute will ich gar nicht mehr heiraten. Es müffeln die ganzen Rituale – der Vater, der in Hetero-Beziehungen die Braut an den Bräutigam übergibt (bin ich ein Gegenstand, der den Besitzer wechselt?), das weiße Kleid (weiß als Symbol für Reinheit oder auch gesellschaftlicher, sexueller Kontrolle), oder das Prinzip des Einander-schwerer-machen-zu-Gehen (mit Gefühlen macht man doch keinen Vertrag, das hat eindeutig schon orthodox-gläubige Züge).

Trotzdem bin ich beeinflusst von diesem Skript, dass es für Liebende gibt. Ich will dieses Fest, bei dem alle Freund*innen und Verwandte anreisen und die Liebenden für ihre Liebe feiern.

Ich nenne dieses Konzept: Wir heiraten nicht am 4. Juli!

Das funktioniert so: Alle Freund*innen und Verwandte bekommen eine Einladung, in der ich und der Mensch, den ich liebe, erklären, warum wir nicht am 4. Juli heiraten und dass es keinen Dresscode geben wird. Außerdem noch der Ort und die Uhrzeit. Später wird es heißen „Wir haben vor zwei Jahren nicht geheiratet“ und nur die Eingeweihten, die, die da waren, werden wissen, dass nicht-geheiratet bedeutet, trotzdem ein großes Fest der Liebe getanzt zu haben, das sich in die Sommernacht verdunstet, nur ohne den Part mit den Ringen und der Hochzeit.
Schließlich braucht jede Mini-Religion ihre eigenen sozialen Rituale.

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