Sommerregen – mit traurigen Tropfen

von Marit Brunnert

Das Gefühl der Trauer ist individuell, ebenso wie der Prozess des Trauerns. Alle in diesem Text beschriebenen Emotionen sind subjektive Erfahrungen und stehen im Zusammenhang mit dem Verlust geliebter Menschen.

Trauern, das bedeutet, Kontraste zu leben.

Manchmal kann ich Stunden lang von dir erzählen, ohne zu weinen.

Manchmal reicht es, dass jemand dir ähnelt.

Trauer. Das ist ein kleines Wort. Es ist ein bisschen wie die Zahl Pi. Als Begriff lässt sie sich von außen ganz gut einordnen, aber ihr inneres Gewicht ist endlos und nur in der Theorie zu greifen.

Trauer. Das ist ein abstraktes Wort. Bis zum letzten Jahr war ich immer nur das Außen. Seit elf Monaten ist dieses abstrakte, große Wirrwarr, welches sich hinter dem Wort verbirgt, ein Teil von mir.

Manchmal merke ich, wie viel von dir ich bin.

Manchmal erinnere ich mich nicht mehr, wie deine Stimme klang.

Trauern ist persönlich. Genauso wie ihr Auslöser. Für manche Menschen wird die Wucht dieses Gefühls recht schnell greifbar, für andere ist sie der Nebel im Kopf, die Schleier in den Gedanken, die jeglicher Klarheit einen Riegel vorschieben. Aber egal, wie die Trauer sich auch anfühlen mag: Sie gehört zum Leben. Genauso wie der Tod. Aber wie mit ihr umgehen?

Manchmal weiß ich, dass du meine Idee gemocht hättest.

Manchmal kann ich mir nichts Schlimmeres vorstellen, als dich nicht mehr fragen zu können.

Meine erste persönliche Begegnung mit der Trauer war unerwartet hart. Und ich war schlecht vorbereitet. An die ersten Wochen kann ich mich nicht richtig erinnern. Sie sind unwirklich und verschwommen. Ein ins Wasser gefallenes Notizbuch mit Erinnerungen, die ich nicht mehr lesen kann. Mit ihnen ist auch die genaue Erinnerung an das Gefühl meiner Trauer verschwunden. Ich glaube, es war zu groß für mich und ich konnte es nicht tragen.

Manchmal will ich es nicht verstehen.

Manchmal kann ich auch nicht

Ich dachte, Trauer bedeutet, einfach sehr traurig zu sein. Die ersten Meter waren unerträglich. In meiner kleinen Blase gab es genug Platz für trübe Gedanken, sauer sein und Fragen, die wohl niemand beantworten konnte. Aber zur Trauer gehören nicht nur dunkelschwarze Momente, sondern auch Wendepunkte. Und die sind, nach meiner Erfahrung, dann eine ganz neue Form von Freude. Denn sie bilden den Kontrast zum „einfach sehr traurig sein“ und sind genau so sehr ein Teil der Trauer selbst. Denn durch sie wird die Trauer etwas Gelebtes.

Manchmal dachte ich, ich werde nie wieder unbeschwert sein.

Heute war ein richtig leichter Tag.

Wendepunkte. Sie sind nicht nur der erste Abend der Unbeschwertheit. Ein Wendepunkt ist auch, wenn du spürst, dass andere Leben weiter gehen. Und die Erkenntnis, dass meines das auch tut. Im Auto mit Freunden weinen, weil man merkt, dass es einen noch immer einnimmt. Und sich das selbst eingestehen.

Trauern verläuft wie ein sehr verwinkelter Pfad. Hätte man mir im November gesagt, dass ich innerhalb eines halben Jahres der Trauer und dem Tod wieder gegenüber treten müsste, ich hätte gesagt, dass das unmöglich ist. Aber man unterschätzt, was man in einer so intensiven Phase alles lernt. Und, dass man nicht zu Punkt Null zurückmuss. Denn als die Trauer und der Tod einfach ein zweites Mal unerwartet im Raum standen, da kannte ich sie schon – und hatte Respekt, aber keine Angst mehr vor ihnen.

Ich habe für mich festgestellt, dass Trauer kein begrenzter Raum ist. Die ersten Monate war ich eingesperrt. Es war so eng, dass ich mich gar nicht getraut habe, mich zu bewegen. Und ich habe darauf gewartet, dass die Tür aufgeht und man mich gehen lässt.Seit unserer zweiten Begegnung sehe ich die Trauer als einen ganz holprigen Weg. Man kann nicht einfach gehen und sie zurücklassen. Verdrängung erscheint verlockend. Aber nur vom beim-Laufen-in-den-Himmel-sehen fängt man nun mal nicht an zu fliegen.

Ich steh mitten auf diesem Weg und manchmal weiß ich nicht, wie man sich die Schnürsenkel wieder zubindet und weiter geht. Aber manchmal kann ich meinem Gefühl auch einfach folgen.

Anfang dieses Sommers habe ich einen Text geschrieben:

Trauer ist auch

Sommerregen wie dieser

Sonntag

Gerade bin ich noch auf meinem Rad geflogen, es kann noch nicht lang her sein.

Jetzt laufe ich

Die Welt ist ganz unscharf, ohne dich, und meine Welt plötzlich unfassbar klein.

Mir ist warm, alles klebt, die Wolken hängen tief.

Ja, sie hängen bis in meinen Kopf 

Die Nässe auf dem Boden bebt, während die Autos vorbeigleiten.

Ich weiß sie sind da, aber die Welt ist ganz unscharf. 

Das erste Mal in diesem Jahr sind die Tropfen auf meiner Haut nicht kalt

Sie sind nicht warm, die Tropfen, aber auch schon nicht mehr kalt. 

Regen wie dieser gibt mir – gerade gar nichts

Er ist nicht greifbar, nichts gerade ist greifbar, außer mir

Ich bin an-greifbar 

Ich stehe hier und der Regen prasselt auf mich ein

Und in mich hinein

Da ist überall Regen in mir und die Welt ist ganz unscharf

Ich laufe an die nächste Ecke

Der Regen tropft – so laut in meinem Kopf 

Wo ist hier der Ausgang, also auch aus der Realität, meine ich 

In Gedanken ecke ich an und Erinnerung überschlägt sich

Der Regen fließt schon längst durch meine Augen

Und hier an dieser Ecke weint die ganze Welt mit mir. 

Und hier an dieser Ecke kann ich nicht greifen, dass

Ich Dich nie wieder sehen werde. 

Ich will die Tropfen in meinem Kopf festhalten

Ich will sie fangen und spüren

Weil sie bedeuten, dass die Erinnerung an dich

So gegenwärtig ist, wie dieser Sommerregen 

Dass alles, was du mir gegeben hast, lebt.

Auch wenn du es nicht mehr tust. 

Ich will sie fangen und spüren.

Weil sie mich mit meiner Angst auf Augenhöhe stellen

Denn auf Sommerregen folgt ein Sommer 

Ich weiß nur noch nicht wie

Denn Gerade ist die Welt einfach nur unscharf 

Ohne dich. 

Inzwischen ist es Herbst. Nun kann ich sagen: Auf den Sommerregen ist ein Sommer gefolgt.

Die Erkenntnis, dass Trauer zum Leben gehört, macht sie nicht unbedingt erträglicher. Aber sie hilft mir, keine Angst mehr zu haben. Durch sie wird der Schmerz, den ich empfinde, nicht weniger. Aber er verändert sich. Weil ich ihn spüren darf.

Manchmal scheint die Sonne genau dahin, wo ich vorher im Schatten saß.

Manchmal denke ich, dass meine Trauer verflogen ist. 

Und immer weiß ich, dass sie das nicht plötzlich muss.

Wenn du trauerst und das Gefühl hast, deine Trauer ist ein enger Raum ohne Ausweg, dann sei dir bewusst, dass du das nicht alleine durchleben musst. Es gibt Anlaufstellen und Einrichtungen, die darauf spezialisiert sind, mit trauernden Menschen zu sprechen.

Nummern der TelefonSeelsorge®: 0800 1110111 / 0800 1110222 / 116123

Chat unter https://online.telefonseelsorge.de/

Selbsthilfegruppen findest du über Selbsthilfegruppenkontaktstellen, Kommunen,

Sterbebegleitungen und bei Bestattungsinstituten

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