Text und Skizzen von Leonie Ziem | Beitragsbild: Jennifer Beuse
Wenn Menschen anfangen, auf ihr Gewissen, statt auf das Gesetz zu hören, beginnt das, was man zivilen Ungehorsam nennt. Die vorsätzliche Verletzung von Rechtsnormen ist ein beliebtes Mittel, um Proteste sichtbarer und dringlicher zu machen – und älter als das Grundgesetz selbst.
Ziviler Ungehorsam ist illegal – und er ist vorsätzlich. Diese Form des Protests entsteht immer aus einem Gewissenskonflikt mit dem herrschenden Recht. Aktivist*innen wollen auf konkrete Ungerechtigkeiten hinweisen und legitimieren ihre Aktionen durch allgemeine moralische Überzeugungen. Henry David Thoreau prägt mit seinem Essay Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat den Begriff des „zivilen Ungehorsams“. Es geht darum, zuerst Mensch und erst dann Untertan zu sein. Thoreau schrieb seinen Essay, nachdem er aus Protest gegen die Sklav*innenhaltung in den USA 1843 aufgehört hatte, seine Steuern zu zahlen. Zur Strafe musste er eine Nacht im Gefängnis verbringen.
Genau darum geht es: Mit zivilem Ungehorsam nehmen Menschen ganz bewusst das Risiko auf sich, verhaftet zu werden. Diese Risikobereitschaft ist das Mittel, um hinter die Dringlichkeit der Anliegen große Ausrufezeichen zu malen. Der Geschichtsprofessor und Aktivist Howard Zinn beschrieb diese Protestform als „den wohlüberlegten Gesetzesverstoß um eines zentralen gesellschaftlichen Zwecks willen.“ Lauthals soll mit Aktionen der Diskurs bewegt und die Korrektur der Ungerechtigkeiten auf die Tagesordnung gesetzt werden. Denn was heute noch eine Rechtsnorm ist, kann übermorgen schon ins Archiv des Geschichtsbuches gedrängt werden. Doch was das Etikett „Ziviler Ungehorsam“ trägt, kann vielfältig sein.
1. Die Unabhängigkeit Indiens
Die britische Kolonialherrschaft in Indien von 1858 bis 1947 ist ein System der Unterdrückung. Doch statt dieses System zu überwältigen, will die indische Unabhängigkeitsbewegung mit ihrer Symbolfigur Mahatma Gandhi überzeugen. Diese Art von zivilem Ungehorsam kann auch als friedlicher Widerstand verstanden werden. Nach dem Massaker von Amritsar, für das die Kolonialmacht nie zur Verantwortung gezogen wird, und bei dem 379 Inder*innen getötet werden, beginnt der Wendepunkt. Die Unabhängigkeitsbewegung versucht konsequent den britischen Einfluss zu schmälern, indem sie britische Produkte und Institutionen boykottieren, und der Kolonialverwaltung die Zusammenarbeit verweigern.
Mit dem Salzmarsch 1930 protestiert Gandhis Bewegung gegen die britische Salzsteuer und zwingt so die britische Kolonialmacht ihre Salzmonopolstellung zu überdenken. Das Prinzip der Gewaltlosigkeit ist gleichzeitig Wert an sich und Strategie. Die Unabhängigkeitsbewegung appellierte an die Menschlichkeit und führt so 1947 das Ende der Kolonialherrschaft in Indien herbei.



2. Rosa Parks bleibt sitzen
Im Jahr 1955 ist die Sitzplatzordnung in den öffentlichen Bussen Alabamas eine rassistische. Schwarze Menschen dürfen nur hinten im Bus sitzen. Als Rosa Parks am 1. Dezember in Montgomery, Alabama aufgefordert wird, ihren Sitzplatz für einen weißen Mann freizugeben, weigert sie sich – und verstößt damit gegen das Gesetz. Ihre Verhaftung führt über Nacht zu einem breiten Protest: dem Busboykott, angeführt von Martin Luther King. Statt mit dem Bus zu fahren, gehen die Schwarzen Bewohner*innen von Montgomery zu Fuß oder gründen Fahrgemeinschaften. Der Boykott hält 381 Tage an und endet erst, als der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten bestätigt, dass die „Rassentrennung“ in öffentlichen Verkehrsmittel und Schulen verfassungswidrig sei. Dieser Erfolg entzündete die Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King.



3. Aus Menschen Daten
machen
1987, vier Jahre nachdem der letzte Versuch einer Volkszählung in Westdeutschland
gescheitert ist, gibt es einen weiteren Anlauf – und erneut erregt sich
Protest. Viele Menschen wollen ihre Daten nicht aus ihrer Privatsphäre hinfort stehlen
lassen. Die Verweigerung der Volkszählung begründen die Menschen als „zivilen
Ungehorsam für mehr Demokratie“. Aktivist*innen schreiben auf die
Rasenfläche des Dortmunder Fußballstadions: „Boykottiert und sabotiert die
Volkszählung“. Alle Versuche, den Schriftzug verschwinden zu lassen, scheitern.
So wird der Satz vor der bundesweiten Ausstrahlung des nächsten Spiels ergänzt:
„Der Bundespräsident boykottiert und sabotiert die Volkszählung nicht“. Je
nach Region verweigern sich bis zu 15 Prozent der Bevölkerung der Teilnahme.



4. Die Protestierenden und die mit den stärkeren Waffen
Die Studierendenbewegung in Peking besetzt 1989 dauerhaft den Platz des Himmlischen Friedens, tritt in einen Hungerstreik und fordert damit einen Dialog. Sie wollen vieles: Zum Beispiel keine Korruption und ein Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit. Obwohl es während der Hungerstreiks zu einer Debatte kommt, die im chinesischen Fernsehen übertragen wird, siegen nicht Worte, sondern Waffen: Die gewaltsame Unterdrückung der Proteste Anfang Juni führen zu Hunderten von Toten in der ganzen Stadt. Viele Einwohner*innen sterben bei dem Versuch, die Panzer auf dem Weg zum Platz aufzuhalten. Bis heute wurde das Massaker nicht aufgearbeitet.
5. Ziviler Ungehorsam im Netz
Anonymous ist ein Kollektiv, das auch vom Wohnzimmer aus operieren kann. Mit Hacktivismus, also dem Blockieren von Websites, oder dem Knacken von Servern, macht die Bewegung seit 2008 auf sich aufmerksam. Mit ihren Aktionen kämpfen sie für ein transparentes Netz, für Meinungsfreiheit oder gegen rechte Hetze. So bemächtigen sich Anonymous-Aktivist*innen 2014 der Twitter-Accounts des Ku-Klux-Klans und stellen Anhänger*innen bloß, indem sie 2015 eine Liste mit persönlichen Daten der Rassist*innen veröffentlichen. „Wir verstehen dieses Datendepot als eine Form des Widerstands gegen die Gewalt- und Einschüchterungstaktiken, die verschiedene Mitglieder des Ku-Klux-Klans im Laufe der Geschichte gegen die Öffentlichkeit ausgeübt haben“, schreibt Anonymous.



6. Wem gehört die Wall Street?
Eine basisdemokratische Massenbewegung entsteht 2011 während den Nachbeben der Finanzmartkrise in den USA: Occupy. Unter dem Motto „Wir, die 99 Prozent“ trifft die bankenkritische Bewegung einen Nerv. Sie besetzen den Zucotti Park in der Nähe der Wall Street in Manhattan und wollen eine Herrschaft der Menschen statt des Kapitals. Schnell wird diese Forderung gegen die Macht der Banken weltweit aufgegriffen. Die Bewegung macht die Empörung von Millionen von Menschen sichtbar und auch der World Inequality Report von 2018 zeigt, dass in den letzten Jahrzehnten in so gut wie allen Weltregionen die Einkommensungleichheit zugenommen hat.
7.Kein Mensch ist illegal!
Dort, wo die einen in den Urlaub fahren, werden die anderen zurück in die Hoffnungslosigkeit geschickt, denken sich 15 Aktivist*innen. Deshalb besetzen sie im März 2017 das Rollfeld eines Londoner Flughafens, um die Abschiebung von Asylbewerber*innen und Geflüchteten nach Nigeria und Ghana zu verhindern. Mit Ketten und Schläuchen binden sie sich an das Fahrwerk und werden verhaftet. Dank ihnen müssen 57 Menschen in dieser Nacht nicht deportiert werden.
8. Die Tochter der Revolutionsstraße
Im Dezember 2017 nimmt Vida Movahed im Iran ihren Hijab in der Öffentlichkeit ab und schwenkt ihn durch die Luft. Sie steigt auf einen Stromkasten und lässt sich dort fotografieren, bis sie wegen Propaganda gegen den Hijab verhaftet wird. Als »Tochter der Revolutionsstraße« wird sie durch die Veröffentlichung auf der Facebookseite StealthyFreedom bekannt, der Hashtag #whitewednesday wird zu einer Solidaritätskampagne. Ihr Protest geht viral und inspiriert dutzende Frauen dazu, es ihr gleichzutun. Im Februar 2018 werden 29 weitere Frauen verhaftet, die gegen den Hijabzwang protestieren. Neben der Unzufriedenheit über die unzureichende Selbstbestimmung wächst auch der allgemeine Unmut über die politische und wirtschaftliche Lage.



9.Eine Liebeserklärung an den Planeten
Die Bewegung Extinction Rebellion, kurz „XR“, blockiert im April 2019 fünf Tage lang den Oxford Circus in London. Sie fordern, dass Klimaschutzziele von Politiker*innen nicht nur brav zitiert, sondern auch in Form von Gesetzen und Maßnahmen umgesetzt werden. Im Laufe der Woche schlagen weitere Aktivist*innen am Marble Arch ihre Zelte auf. Andere kleben sich mit Sofortkleber an Eingänge oder Böden. Eine Ausnahmesituation von über 1.000 Verhaftungen fordert London heraus. Greta Thunberg, Initiatorin von Fridays For Future, reist ebenfalls an. Inzwischen hat das britische Parlament den „Klima-Notstand“ ausgerufen. Die Bewegung entstand in einer Kleinstadt Englands mit fünfzehn Menschen, heute gibt es auf jedem Kontinenten bis auf die Antartkis XR-Aktivist*innen. Die nächsten internationale Woche der Rebellion, oder auch die nächste „Rebellion Wave“ startet am 7. Oktober – so auch in Deutschland.
„Man sagt, das Problem sei ziviler Ungehorsam, aber das ist nicht unser Problem. Unser Problem ist der zivile Gehorsam. Unser Problem ist die große Anzahl der Menschen auf der ganzen Welt, die dem Diktat ihrer Regierung folgen und deshalb in Kriege ziehen, in denen dann Millionen genau wegen diesem zivilen Gehorsam getötet werden. Unser Problem ist der zivile Gehorsam auf der ganzen Welt, angesichts der Armut, des Hungers, der Dummheit, der Kriege und aller Verbrechen. Unser Problem besteht darin, daß Menschen gehorsam sind, sich die Gefängnisse wegen Bagatellen füllen während die großen Verbrecher die Staatsgeschäfte führen. Das ist unser Problem!“ -Howard Zinn


