Osama – Ich verstehe Dich.

von Mohamad Naanaa | Illustration: © Nora Boiko

2005 ging ich in die sechste Klasse in meiner Heimat Syrien. Ich hatte, wie die die meisten Schüler, eine ziemlich eintönige Schulzeit. Zu der Zeit begann der Krieg im Irak und damit auch der Zustrom irakischer Flüchtlinge nach Syrien. Während dieses Schuljahres kam deshalb ein neuer Schüler in unsere Klasse! Ein kleiner, braunhäutiger, irakischer Junge mit dem Namen „Osama“, der vor dem Irak-Krieg mit seiner Familie nach Syrien in die Stadt Aleppo geflüchtet ist. Ich erinnere mich, dass es ein sonniger Tag war, an dem Osama in unsere Klasse kam und dass unsere alte Schule in der Sonne scheinbar ihre verlorene Schönheit wiederentdeckte! Es war am Anfang etwas seltsam, da Osama der einzige irakische Schüler in unserer Klasse war, aber gleichzeitig fand ich es interessant, dass ein Schüler aus einem anderen Land zu uns kam.

Ich habe ständig die Nachrichten aus dem Irak-Krieg mit meinem Vater verfolgt, ohne genau zu verstehen, was dort passiert! Deshalb beschloss ich, Osama nach dem Thema zu fragen – immerhin hatte er den Krieg selber erlebt, bevor er nach Syrien floh. Einige Tage später wurden wir enge Freunde, und ich begann Osama viele, verschiedene Fragen über den Irak zu stellen. Und Osama, der ein sehr netter Junge war, wies keine meiner Fragen zurück! Er erzählt mir vom Irak und insbesondere von seiner Stadt Mosul, wie schön sie war, aber wie der Krieg sie zu einer „Stadt der Toten“ gemacht hat und wie schmerzvoll es ist, Freunde und Verwandte zu verlieren. Auch von seinem Fluchtweg nach Syrien berichtete er mir und davon, alle Erinnerungen zurück zu lassen, um ein neues Leben in einem fremden Land anzufangen! Als er über seine Heimat sprach, konnte ich ihm den Schmerz, der in seinen Geschichten lag, in den Augen ansehen.

Heute – 14 Jahre nachdem ich Osama kennengelernt habe – kann ich jedes Wort verstehen, dass er mir über den Krieg und die Verbrecher erzählt hat, ebenso sehe ich die Bilder der Überreste von Toten, fühle den Kummer der verlorenen Erinnerungen und kenne die Flucht. Ich würde so gerne wissen, wo er sich heute befindet! Heute will ich ihm meine Geschichte erzählen, die seiner sehr ähnlich ist: Eine Geschichte über einen Diktator, der ein ganzes Land zerstörte und Tausende von Menschen ums Leben brachte. Auch von meinem ruinierten Heim möchte ich erzählen, sowie von meinen inhaftierten Freunden und von den Waisenkindern.

Mohamad lebt heute in Berlin. | © Justin Adam

Aber ich möchte mit ihm auch unsere gemeinsamen Erinnerungen aus der Schulzeit teilen, um ihm dann von meinem Leben in Deutschland zu erzählen, das sich vollständig in der Kultur, Tradition und Sprache von Syrien unterscheidet! In der Schule habe ich auf die Pause gewartet. Nicht, um – wie die Meisten – mit meinen Freunden Fußball spielen zu können, sondern um mit Osama zu sprechen! Wir haben immer ein Buttercroissant und einen Saft gekauft, bevor wir mit unseren Gesprächen über den Irak und Osamas Flucht begannen. Zu der Zeit wusste ich nicht, warum ich mich so sehr für dieses Thema interessierte. Um ehrlich zu sein, konnte ich mir nicht einmal im Geringsten vorstellen, dass ich eines Tages seine Geschichte erleben muss! Ich glaube, das Schicksal wollte mich auf diese Etappe meines Lebens vorbereiten. Sie haben auch unsere alte Schule bombardiert!

Lieber Osama, vielleicht musstest du noch einmal in ein anderes Land flüchten. Ich wollte dir nur schreiben, dass ich heute voll und ganz verstehe, was es bedeutet die eigene Heimat verlassen zu müssen. Ich weiß, was es bedeutet ein Flüchtling zu sein und wie viel Geduld, Energie und Hoffnung es braucht, um seine Träume zu verwirklichen und die schwierige Realität zu akzeptieren. Osama, du musst wissen: Sie haben auch unsere alte Schule bombardiert! Vielleicht haben sie unseren Sitzplatz getroffen, aber die Erinnerungen an diese Zeit bleiben in meinem Kopf, wo sie niemand löschen kann. Ich danke dir von ganzem Herzen, dass du deine Geschichte mit mir geteilt haben! Du hast mir Hoffnung gegeben, damit ich niemals aufgebe. Ich schicke dir viele Grüße aus Berlin in Deutschland, mit der Hoffnung dich eines Tages wiederzusehen, um dir meine Geschichte zu erzählen. Denn dieses Mal bin ich dran!

  1. Pingback: Afghanistan – Stimme einer kritischen Bürgerin – sai

  2. Pingback: Afghanistan – Voice of a citizen – sai

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Gefällt dir das sai-magazin?